Die Visitenfahrt.

Humoreske von Otto Bürger
in: „Hagener Zeitung” Beilage Unterhaltungsblatt vom 8.9.1897


Arthur war der glücklichste unter der Sonne. Niemals hatte er sich so unaussprechlich von Herzen froh und selig gefühlt, wie heute, wo er mit seiner angebeteten Klara, seiner seit drei ganzen Tagen offiziell mit ihm verlobten Braut die Tournée zu den Verwandten und Bekannten antrat, um sich in der neuen Charge als Bräutigam vorzustellen und das reizendste aller weiblichen Wesen zu präsentieren.

Gott, wenn man jung ist und eine Braut hat, dann denkt man, man habe die Glückseligkeit gepachtet und kein anderer Mensch wisse überhaupt, was die Worte Liebe und Glück zu bedeuten aben.

Arthur stand also vor dem Spiegel und machte mit der Haarbürste den einhundertundfünfzigsten Strich über sein bereits tadellos sitzendes Haupthaar. Dann wurde mit großer Sorgfalt der feierliche schwarze Rock angezogen, der Zylinder aufgesetzt, die Handschuh hervorgeholt und nun konnte es losgehen.

Der Wagen wartete nämlich unten vor der Thür schon eine halbe Stunde. Natürlich hatte man das eleganteste Kupee genommen, welches in der ganzen Stadt aufzutreiben war und sich außer dem Kutscher auch einen Diener geleistet, der bei jeder Station abspringen und den Wagenschlag öffnen muß. Das macht sich sehr elegant, kostet nur drei Mark mehr und schließlich sagt man sich ja: Es kommt ja im Leben nur einmal vor.

Mit der erforderlichen Grandezza stieg also Arthur die Treppe hinab, machte ein sehr wohlwollendes Gesicht, als der hellblau gallonnierte Diener auf den Wagenschlag zustürzte, um diesen zu öffnen und nannte als das nächste Ziel die Adresse seiner reizenden, zuckersüßen, angebeteten und vergötterten Braut. Der Diener schlug die Wagenthür zu, erklomm den Bock, rief dem Kutscher die Adresse zu und fort gings mit den beiden tiefschwarzen, mit Silbergeschirr bedeckten Rappen und — Gummirädern; selbstverständlich.

Herrgott, war das ein wonniges Gefühl, als Arthur sich nun in die seidenen Kissen zurücklegte und die Beine, welche in absolut neuen Hosen staken, sanft und behutsam von sich streckte, damit nur ja seine Lackstiefel nicht in Gefahr kamen. Ein Häufchen Visitenkarten hatte er bereit und ebenso eine sorgfältig mit Klärchen gemeinsam ausgearbeitete Liste, welche mit den Namen derjenigen Leute bedeckt war, die eines Besuches seitens des neugebackenen Brautpaares für würdig befunden waren. Leider — leider — leider waren es grade dreizehn Personen! Wer eine Heirat vorhat oder sich sonst in Gefahr begiebt, ist immer abergläubisch, und so hatte Arthur denn auch mit Klärchen hin und her über dieses unglückliche Zufallsspiel debattiert; leider aber hatte man einen Vierzehnten, der einer Visite für würdig befunden wäre, nicht mehr ausgeben können und von den Dreizehn konnte man auch absolut keinen weglassen. Das war der Mißton, der sich in die Wonne mengte. Nun, man hatte sich aber an den Gedanken gewöhnt und wenn man jung und glücklich ist, dann denkt man den Teufel an Unglück.

Inzwischen war der Wagen vor Liebchens Thür gerollt, der Diener sprang vom Bock und Arthur entstieg dem Wagen mit einer Grandezza, wie sie ein Spanier mit 17 Ahnen nicht großartiger entwickeln kann. Als er seinem Bräutchen, welches ihn bereits fix und fertig erwartete, gegenübertrat, da wollte sich sein Herz vor schier unfaßbarem Glück beinahe umkehren; er pries sein Schicksal von neuem und wiederholte sich im stillen nochmals den Schwur unwandelbarer Liebe und Treue.

Die Schwiegermutter strahlte natürlich gleichfalls in unnennbarem Wonnegefühl und sie gab quasi nochmals ihren Segen dem jungen Paare mit auf den Weg. Als die beiden jungen Leutchen von Marie, dem Dienstmädchen, bis an die Korridorthür gebracht waren, begab sich Mama schleunigst auf den Balkon, um die „Kinder” einsteigen zu sehen. Ei, wie elegant sich das machte! Der Diener stand mit der Hand am Hute am Wagenschlag und Arthurchen half galant seinem Klärchen in das Kupee. Daß Arthur den Moment des Zurechtsetzens benutzte, um seinem Bräutchen einen Kuß auf die willig dargebotenen Lippen zu drücken, das bemerkte sie freilich nicht; aber wenn sie's auch bemerkt hätte, da wäre auch weiter nichts dabei gewesen.

Die Fahrt ging zuerst zu Onkel Theodor, einem reichen Witwer ohne Nachkommenschaft, auf dessen Vermögen Arthur einst Anwartschaft hatte. Onkel Theodor wußte den neuen Stand seines Neffen als wohlbestallter Bräutigam zu würdigen und das hübsche Mädchen, das sich der „Junge” ausgesucht hatte, fand seinen vollen Beifall.

„Kinder,“ rief er glückselig aus,„das ist wirklich eine Herzensfreude, die Ihr Eurem alten Onkel noch auf seine letzten Tage bereitet. Was würde meine Alte sagen, wenn sie noch lebte. Na, die ist nun hinüber, Gott habe sie selig. Wir aber wollen das frohe Ereignis gebührend feiern. Wie ist's denn mit einem Glase Sherry? Was, Junge? Das wäre so ein guter Tropfen!”

Arthur wagte der Majestät des wohlhabenden Erbonkels gegenüber nicht zu widersprechen und der gute Onkel Theodor öffnete eigenhändig eine fine Old Sherry, von der er behauptete, daß sie durchaus alle werden müßte. Klärchen wagte ganz schüchtern einzuwenden, daß sie von dem starken Wein nicht viel trinken könne; Onkel Theodor aber schnitt alle Bedenken mit den Worten:„Unsinn, Kinder! Nur nicht so zimperlich; das dürft Ihr mir nicht anthun!” radikal ab.

Es wurde auf alles mögliche angestoßen und getrunken, und wenn der gute Onkel auch ein gut Teil der Flasche auf sein Konto nahm, so kam doch auch auf Arthurs Teil immerhin so viel, daß er in einer ziemlich vergnügten Stimmung Abschied nahm, um mit seinem Bräutchen die Visitenfahrt fortzusetzen. Sie führte zu einer Familie, mit welcher die Eltern in freundschaftlichem Verkehr lebten.

Der Justizrat war ein ebenso jovialer und väterlich wohlgesinnter Herr, wie seine Gattin eine liebenswürdige und gastfreie Hausfrau war. In der justizrätlichen Familie war der Portwein das Getränk, von dem jedem einkehrenden Gast ein „Gläschen” kredenzt wurde. Abschlagen“ wurde nicht anerkannt; Arthur mußte auf das Wohl seiner Braut und diese auf das Wohl ihres Bräutigams trinken. Natürlich wurde auch auf eine glückliche Ehe angestoßen und zuletzt noch ein „Schlückchen” zum Abgewöhnen genommen.

Heiliger Brahmaputra! Als Arthur sich mit seiner zukünftigen besseren Hälfte empfohlen hatte, mußte er sich draußen auf der Treppe erst ein wenig an der frischen Luft verpusten und sich in Acht nehmen, daß er die Stufen nicht verfehle. Klärchen sah ordentlich ein bischen blaß aus; das bemerkte aber Arthur vorläufig nicht, denn er hatte auf sich selbst aufzupassen.

Die nächste Station bildete ein Premier-leutnant der Reserve von einem Ulanen-Regiment, bei dem auch Arthur eine achtwöchige Uebung gemacht hatte. Da wurden denn alte Erinnerungen aus der Soldatenzeit aufgewärmt; man gedachte eines alten Wachtmeisters namens Lehmann, der bei dem Regiment gestanden hatte, ja sogar einiger Pferde der dritten Schwadron und der Reserveleutnant bestand darauf, daß man zu Ehren des Regiments ein Glas Madeira trinken müßte.

Als Arthur dieses Ansinnen vernahm, wollte er mit aller Macht ablehnen, denn er sah es kommen, daß, wenn es in den schweren Weinen so weiter ginge, es absolut unmöglich sei, die dreizehn Stationen abzuarbeiten, wenn man sich nicht lebensgefährlich betrinken wolle. Da kam er aber bei dem Kameraden schlecht an. Entschuldigungen wurden nicht angenommen und heroisch stürzte Arthur ein paar Glas Madeira hinunter. Klärchen sagte nichts, sie nippte zwar jedesmal nur an ihrem Glase, aber es wurde so oft angestoßen, daß auch sie schon ein wenig etwas in den Kopf bekam.

Die alte Kameradschaft wurde so gründlich begossen, daß Arthur, als die Thür dieser äußerst gastfreien Wohnung sich hinter ihm schloß, wie schwindelnd das Treppengeländer ergreifen mußte. „Mein Gott!” so dachte er bei sich,„was soll nur Klärchen von Dir denken; so hat sie Dich, den sie bisher für ein Muster von Tugend und Nüchternheit hielt, ja noch niemals gesehen.” Und er nahm alle seine Kraft zusammen, die Treppe möglichst ungefährdet hinab zu gelangen. Beim Einsteigen in den Wagen schwankte er bedenklich und die Adresse für die nächste Station kam sehr unsicher heraus.

Diese erwies sich nun als die gefahrvollste, denn der zu besuchende Herr war kein anderer, als der große Weinhändler Hebelmann, dessen Spezialität die Einführung ungarischer Weine war. Seiner Einladung wollte Arthur einen energischen Widerstand entgegen setzen. Aber ach, der Widerstand war nicht mehr von nachhaltiger Dauer, denn der alte Herr wußte so viel von den guten Eigenschaften und der gänzlichen Unverfänglichkeit des Ungarweins zu erzählen, daß Arthur schließlich sich in das Unvermeidliche ergab und todesmutig die sonst so edle, heut aber durchaus gefährliche Gottesgabe hinunterstürzte.

„Nullum vinum nisi hungaricum,” sagte der dicke Hebelmann und plantschte immer wieder die Gläser voll; er selbst konnte nämlich, wie man zu sagen pflegt, einen Stiefel vertragen. Nun wars aber mit der Standhaftigkeit des Bräutigams vorbei. Die beiden jungen Leute hatte Mühe, sich aufrecht zu erhalten; Klärchen war ganz blaß geworden, hatte eine kreideweiße Nasenspitze bekommen, und Arthur begann bereits wie ein Trunkener zu lallen. Willenlos ließ er geschehen, daß Hebelmann ihm noch ein paarmal eingoß; dann fühlte er aber, daß es nicht länger ging. Er nahm sein Klärchen unter den Arm und empfahl sich ohne viele Förmlichkeit von dem spendelustigen Weinhändler, dessen rotes Gesicht wie der untergehende Sonnenball erglänzte.

Wie die beiden die Treppe hinuntergekommen sind, wußte später keiner von ihnen zu sagen; auch das Einsteigen in das Kupee ist ihnen für alle Zeiten ein ungelöstes Rätsel geblieben. Als man im Wagen saß, fiel Klärchen apathisch in eine Ecke und flüsterte leise: „Ach, Arthur, mir wird so schlecht; bitte, laß umkehren.

Richtig! Arthur hatte ja dem Diener gar keine weitere Adresse gesagt; dieser stand vielmehr am Wagenschlag und harrte der Dinge, die da kommen sollten; er sah sehr wohl, daß die beiden des guten etwas zu viel gethan hatten. Dem jungen Bräutigam war spottschlecht zu Mute. Vor seinen Angen begann alles zu kreisen und in seinem Magen wurde ihm augenscheinlich das unterste zu oberst gekehrt. Apathisch fiel er in die Kissen des Wagens zurück. Der Diener aber, der noch immer keine Antwort erhalten hatte, öffnete den Wagenschlag und fragte:„Wohin befehlen der gnädige Herr?

Mechanisch nannte Arthur die Adresse seiner Braut. Als man daselbst ankam, war er bereits in einem solchen Zustande, daß er sich um sein angebetetes Bräutchen überhaupt nicht mehr kümmerte, sondern diese ihrem Schicksal überließ. Vergeblich suchte das junge Mädchen den Bräutigum aus seiner Erstarrung zu erwecken. Umsonst; sie gab endlich ihre Bemühungen auf und wankte, selbst sterbenselend, hinauf in die Arme ihrer sie bestürzt empfangenden Mutter.

Unten vor der Thür hielt indes der Wagen und der betreßte Diener sah die ganze Schwere des Unglückes, welches den vor einer Stunde noch so schneidigen Bräutigam betroffen hatte. Er gab sich angesichts der Umstände auch gar keine Mühe weiter, den Schwerkranken zum Leben zu erwecken, sondern bestieg seinen Bock, verständigte den Kutscher von dem Vorgefallenen und fort rollte das Kupee mit der Weinleiche den heimischen Penaten Arthurs zu.

Der Jammer, in welchem sich der Bräutigam befand, war unaussprechlich; er, der sich heut früh als der glücklichste der Sterblichen fühlte, er kam sich jetzt vor wie der elendste auf der ganzen Erde. Also das war das traurige Ende der unter so glänzenden Auspizien begonnenen Visitenfahrt!? Und was mußte seine Klara von ihm denken, sie, der er sich stets nur von seiner tugendhaftesten Seite gezeigt hatte? Ach, wie war es nur möglich, diese Last des Jammers zu tragen? Fast hätte er Selbstmordgedanken bekommen, wenn ihm nicht der Wein auch sein letztes bißchen Energie geraubt hätte. Er war bald in dem Stadium absoluter Gefühlslosikeit und Gleichgiltigkeit angelangt und als der Wagen vor seinem Hause vorfuhr, da war er thatsächlich nicht mehr im stande, sich allein herauszuquälen und die Treppe hinaufzuklettern. Er wurde von dem Diener, der zu ganz anderen Zwecken engagiert war, die Treppen förmlich hinaufgeschleppt und in seiner Wohnung regelrecht abgeladen.

So endete der heutige Tag, der ihm am Morgen als der herrlichste seines Lebens erschienen war, mit dumpfer Verzweiflung und einem schauderhaften physischen und moralischen Kater.

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